Sünde und Moral, Reue und Vergebung

Das Thema Doping ist mir irgendwann zugelaufen. Ich habe mich nicht danach gereckt. Das ist mit vielen Themen so, die das Geschehen hinter den Kulissen aufhellen – den Betrug, den Missbrauch, die vielen unterschiedlichen Manipulationsbemühungen, die man auch als Verarschung der Massen bezeichnen darf.

Sie haben es verdient, gründlich abgehandelt zu werden. Und sie erfordern einen ganz erheblichen Wissensstand. Aber sie erfordern vor allem auch dies: eine Haltung. Die besteht zunächst aus einer pauschalen Unterstellung, dass eigentlich nichts, was wir im Sport an Oberfläche sehen, wirklich etwas zur Substanz des Interaktionsgefüges beiträgt. Und sie besteht aus den Vorbehalten, dass niemand wirklich möchte, dass die hässliche Seite dieses Geschehens und Geschäfts aufgedeckt wird. Und sie besteht ebenso aus dem Blick dafür, wie denn solche Verhältnisse narrativ oder nachrichtlich den Lesern von Zeitungen und den Hörern von Radiosendungen nahegebracht werden können.

4202932333_1f10eed4cc_bEs gibt viel zu viele Journalisten (gerade im Sport), die nicht im Traum daran denken würden, sich mit diesem Teil ihrer Rolle zu beschäftigen. Ihre Haltung ist simpler. Sie nehmen das Gebotene aus den Arenen und den Pressekonferenzen im tiefen Bauch der großen Stadien für bare Münze und reichen es einfach nur weiter. Manchmal fälschen sie dabei sogar ihr Arbeitsergebnis. Und zwar ohne rot zu werden. (Siehe diese Geschichte von René Martens im Fachorgan Journalist über die Unsitte bestimmter getürkter Interviews, die eigentlich nur Protokolle von Pressekonferenzen sind).

Aber ich schweife ab. Ich sagte: Doping ist mir zugelaufen. BALCO, Marion Jones, Jeff Novitzky – das lag hier in Amerika eines Tages einfach auf dem Tablett. Barry Bonds, Mark McGwire unter Eid im Kongress. All das Herumgeeiere, die Lügen und die Arbeit der staatlichen Ermittler. Es hat mich fasziniert und wurde zu etwas, was Amerikaner mit der idiomatischen Wendung belegen würden: the gift that keeps on giving. Es war ein Geschenk an den neugierigen und gleichzeitig skeptischen Journalisten. So wie das Korruptionsgeschehen bei der Vergabe der Olympischen Spiele von Salt Lake City, wofür ich damals für den stern nach Utah geflogen bin. Oder wie die Sache mit den Langzeitschäden von Football-Profis, über die ich vor einer Weile für die Sendung „sport inside“ auf WDR 3 berichtet habe („Das Elend der Gladiatoren“). Oder die Einmischung in die Diskussion um Meinungsfreiheit und Videorechte im Amateursport, was – teilweise sogar von anderen zitiert wurde (wie hier). Man lernt etwas, man erklärt etwas. Man reicht es weiter. Und manchmal pflanzt sich das, was man schreibt, in anderen Köpfen fort.

Gut so.

Die vergangene Woche allerdings war ein Schlauch. Soviel Doping. Und soviel Lance Armstrong, Lance Armstrong, Lance Armstrong. Für Zeitungen, fürs Radio und am Ende auch noch mit einer Handreichung fürs Fernsehen. Da weiß man irgendwann nicht mehr, ob man noch der Herr seiner eigenen Einschätzungen ist oder ob man eingeholt wurde von den sich überschlagenden Facetten einer hochkomplexen und sich ständig verändernden Realität.

Bis zu seinem Fernseh-Geständnis war Armstrong leichter zu skizzieren und einzuschätzen. Man sah in ihm einen Typen mit einer einfachen Strategie, die der ähnelt, die Republikaner im amerikanischen Kongress verfolgen. Sie spielen Theater für den mit ihnen sympathisierenden Teil der Galerie und blockieren ansonsten jede sinnvolle Auseinandersetzung mit dem Kern der Sache. Als er sich vor einer Woche in Austin Oprah Winfrey stellte, änderte sich das. Da fühlte ich mich gezwungen, die Motivation dieses Betrügers zu analysieren. Was nicht einfach ist. Der Mann ist ein Psychopath. Was plant der? Was improvisiert der? Ich weiß es nicht und würde da auch gar nicht spekulieren wollen. Ich will auch nicht spekulieren, wie die amerikanische Öffentlichkeit mit einem geständigen Dopinglügner verfährt. Ob er noch mal – als Werbefigur – Geld verdienen wird, ist mir echt egal. Spätestens wenn es so weit ist, nehme ich mich der Frage gerne wieder an.

Diese Nachfrage nach Spekulativem, die von manchen Redaktionen betrieben wird, hat natürlich Gründe. In der Zuspitzung der Armstrong-Geschichte auf ihn als Person und zentrale Figur liegt eine Chance: für eine kurzatmige Berichterstattung der Medien, die es gestattet, die komplizierten Details und Hintergründe auf ein paar wenige Aspekte zu reduzieren. Mehr will kaum jemand wissen als die Geschichte von dem Lügner, der jahrelang nicht erwischt wurde, dann alles abstritt und schließlich nicht anders konnte, als seine Lügen einzugestehen. Diese Sichtweise ist die andere Seite des Personenkults, den die Medien fördern und in ihnen wir Journalisten. Auch beim gesellschaftlichen Abstieg begleitet eine ehemals bewunderte Berühmtheit der einäugige und monotone Chor der auf Leute fixierten Medienmanipulatoren. Zum Glück gibt es Redaktionen, die Platz haben und neugierig sind auf ergänzendes und erhellendes Material. Deren Arbeitsweise von einer Haltung geprägt ist. Von der Haltung, die solchen Fragen nachgeht: Wo sind die noch immer fehlenden Bruchstücke und Mosaiksteine einer massiven mafiaartigen Verschwörung? Wann erhalten wir wirklich das vollständige Bild einer der größten Betrugsmaschinerien, die der Sport je erlebt hat?

Die neue Medienwelt geht mit meinen Beiträgen übrigens oft auf eine kuriose Weise um. Sie werden – etwa in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und im Tagesanzeiger, für die ich schreibe – zwar jedes Mal gedruckt, aber nicht notwendigerweise auch online publiziert. Der Grund hat jedes Mal etwas mit einer Einzelfallentscheidung zu tun, eine wirkliche Linie ist dahinter nicht zu erkennen. Ich hatte mal den Standpunkt, dass mich diese Kleinigkeiten nicht besonders beschäftigen sollten. Mittlerweile bedaure ich es, wenn gedruckte Texte nicht auf den Webseiten der Redaktionen auftauchen. Denn sie werden dadurch einem erheblichen Teil des potenziellen Publikums vorenthalten. Denjenigen, die keine Zeitungen kaufen und keine Zeitungen lesen.

Die Medienrezeption hat sich geändert. Meine auch. Ich nehme Texte, die nicht online veröffentlicht werden, keineswegs als kostbarer und wertvoller wahr, auch wenn hinter dem Vorgang die Absicht steckt, die Zeitung als Objekt und ihre exklusiven Inhalte attraktiver zu machen.

Nur partiell präsent zu sein, nicht über alle zugånglichen Kanäle mit seinen Geschichten durchzudringen, ist ein eigenartiges Gefühl. Es gibt da einige Varianten. Zum Beispiel im Fall von DRadio Wissen, das als dritter Kanal des Deutschlandradios nur online gestreamt wird, aber auf das Publizieren der Manuskripte verzichtet, die während der Produktion von Beiträgen erstellt werden. Eine Praxis, die bei den anderen beiden Programmschienen von Deutschlandradio anders gehandhabt wird. Dort nimmt man jeweils nach sechs Monaten die Audio-Datein aus dem Netz. Die Manuskript-Version jedoch kann sich weiterhin jeder anschauen und durchlesen.

So müsste ich jedem, der sich für einen besonderen Hintergrundaspekt der Armstrong-Beichte der letzten Woche interessiert, dazu nötigen, sich den gesamten Beitrag anzuhören. Es lohnt sich durchaus. Denn er ist audiophon sehr abwechslungsreich gestaltet. Aber was in ihm alles gesagt und erklärt wird, das lässt sich nicht auf der Webseite  schnell mal durchlesen. Das Manuskript wurde nicht ins Netz gestellt. Das ist bei DRadio Wissen eben so. Weshalb es so ist, weiß ich nicht.

Was mir aber just an diesem Tag bei DRadio Wissen aufgefallen ist, als „Die Lüge ist schlimmer als die Tat“ lief: Es steht in einem Themenkontext, der von den Redakteuren hervorragend aufgefächert und zusammengefügt wurde. Ich ziehe meinen Hut vor dieser Kuratierung von Sportthemen, die es verdient haben, genauer und weiträumiger aufgearbeitet zu werden. Für so etwas liefert man gerne ein tiefer schürfendes Stück über Sport, Amerika, Moral und inszenierte Schuldgeständnisse ab. Auch wenn es eigentlich, natürlich, um Doping geht. The gift that keeps on giving.

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