
Das amerikanische Wochenmagazin Time kam Ende des letzten Jahres in einer Bewertung der “30 besten Apps für Apples neuen iPad” nach nur wenigen Empfehlungen auf eine Plattform für Leute zu sprechen, die ihre Informationen von einem der bestgehüteten Geheimnisse der amerikanischen Informationskultur beziehen. Es ist die von National Public Radio, das von Washington aus mit seinem enormen redaktionellen Angebot ein Netz von knapp tausend UKW-Sendern im ganzen Land bedient.“NPR hatte eine der allerersten iPad-Apps überhaupt und ist noch immer eine der nützlichsten, wenn es darum geht, sich mit Nachrichten zu versorgen”, lautete die Bewertung. Das besondere an dem Modul, das einen nicht im geringsten an ein Radiogerät erinnert, ja, nicht mal mehr an eine Webseite: “Durch die Geschichten zu stöbern, geht ganz schnell, und es gibt jede Menge Audiomaterial, entweder aufgenommen oder live.”
Wenn man dieses Angebot mit dem von einem seiner entfernten Verwandten in Deutschland vergleicht, fällt zunächst mal eines auf: Da gibt es nichts zu vergleichen. Die App von Deutschlandradio, von der hier kurz die Rede sein soll, ist das moderne Gegenstück eines Volksempfängers. Es sieht schick aus, aber man kann nur drei Kanäle haben. Und die nur live. Und alles, was die ARD im Rahmen ihrer Mediathek anbietet, ist schwierig zu navigieren.
Das ist nicht die Schuld der Designer, die für die Öffentlich-Rechtlichen arbeiten. Denn sie werden massiv von den Auflagen aus dem politischen Deutschland gehandikapt. Die Printverlage, die so etwas wie den Alleinvertretungsanspruch auf Online- und Mobilgeräteinformationen erheben, haben dafür gesorgt, dass der deutsche Radiokonsument nichts Besonderes für das Geld bekommt, das er bereits in Form von Gebühren bezahlt hat.
Dass es in den USA ganz anders läuft, dass Radioredaktionen Fotos und sogar Videos einsetzen, um ihre Berichte zu illustrieren und zu vertiefen, ja, dass sie überhaupt über den Tellerrand der ausgestrahlten Beiträge hinausblicken, ist nichts anderes als Teil ihrer Überlebensstrategie. Public Radio in den Vereinigten Staaten ist seit seiner Gründung Anfang der siebziger Jahre auf die Gunst der Hörer angewiesen. Das Programm zu empfangen, kostet nichts. Und das gilt natürlich auch für die digitalen Vermittlungswege. Im Gegenzug laufen alle vier Monate sogenannten “Pledge Drives”, in denen die Programmmacher jeweils tagelang die normalen Sendungen unterbrechen und um Spenden bitten. Zusätzlich werden Stiftungen um Unterstützung gebeten und privatwirtschaftliche Unternehmen eingeladen, sich an der Finanzierung zu beteiligen.
Wirtschaften kann der Betrieb mit knapp 200 Millionen Dollar im Jahr, was reicht, um eines der größten Korrespondentennetzwerke zu unterhalten. Mit Büros in den USA und in vielen Ländern der Welt. Der konstant hohe Informationsgehalt der überwiegend in Magazinformaten produzierten Sendungen wie Morning Edition und All Things Considered hat landesweit für ein wachsendes Publikum gesorgt, das inzwischen – im Wochentakt berechnet – bei über 20 Millionen Hörern liegt. Das Durchschnittsalter liegt bei knapp 50. Ihr Haushaltseinkommen liegt weit über dem amerikanischen Schnitt.
Und natürlich wollen sie heute anders angesprochen und mitgenommen werden als früher, wo die meisten Radiohörer im Auto während des Berufsverkehrs die Frequenzen fanden, auf denen die NPR-Sender ausstrahlen. Weshalb die Zugriffe auf die Apps und ihre Nutzung ständig wachsen. So schalten von den über die NPR-Twitter-News angestubbsten Nutzer nur noch 67 Prozent ein Radio ein. Die Facebook-Seite hat mehr als zwei Millionen Fans. (https://en.wikipedia.org/wiki/NPR#Digital_media) Im digitalen Alltag erreicht Public Radio auf diese Weise tatsächlich ein jüngeres Publikum und leidet nicht unter einer gerontologischen Befindlichkeit.
Das kam nicht einfach über Nacht und durch Handauflegen. Die Umstellung auf eine digitale Zukunft begann 2007 und sorgte dafür, dass 600 Mitarbeiter, einschließlich Reportern, Producern und Redakteuren sukzessive beigebracht bekamen, die Ausdrucksformate des Webs und der Apps anzueignen und natürlich auch die neuen Audio-Programme zu beherrschen. Video und Foto galten von Anfang an nicht als Fremdkörper oder Farbtupfer, sondern als Bereicherung. Einen erheblichen Teil der Kosten dieser Schulung (rund 1,5 Millionen Dollar) übernahm die John S. and James L. Knight Foundation (http://www.knightfoundation.org/publications/npr-assessment), die ihre Spendengelder in Innovationsprojekte in den amerikanischen Medien steckt.
Die Investition hat sich gelohnt, sagt David Wright (http://newsroom.journalists.org/ 2012/09/23/nprs-david-wright-on-designing-the-storytelling-experience-for-mobile/), der Digital Design Director von NPR, im letzten Jahr. Er kam 2009 von usatoday.com und kann sich durchaus vorstellen, dass sein Laden in nicht zu ferner Zukunft als erstes Nachrichtenmedium die Schwelle überwindet, an der mehr Nutzer ihren Radiokonsum über Mobilgeräte beziehen als über den PC.
Es war nicht einfach, solche Entwicklungen in einem Betrieb voranzubringen, der ziemlich selbstbewusst über Jahrzehnte ein kluges und erfolgreiches Programm aufgebaut hatte. Reporter, so musste Wright feststellen, lassen sich nicht so gerne für Designfragen begeistern. Obwohl er denen gerne Honig um den Bart schmiert und ihnen klar macht, dass sie als Journalisten durchaus begabt genug seien.
Die schwierigste Phase ist ohnehin vorbei. Die wurde 2010 im Eiltempo durchlaufen, als die iPad-App entwickelt wurde und in den Diskussionen über die Architektur solche Dinge klar wurden: Es ist nicht so einfach, die vorhandene iPhone-App umzutopfen. Manche Uridee für die Gestaltung wurde wieder verworfen. Man hätte das Konzept sonst vermutlich schlichtweg überfrachtet. (http://www.snd.org/2010/04/inside-the- design-process-for-nprs-ipad-app/ )
Die Frage heute ist eher: Warʼs das? Oder gehtʼs weiter mit der Metamorphose? Und wenn ja, auf welchen Kanälen und mit welchen Mitteln?
Von der sehr viel offensichtlicheren Frage gar nicht zu reden: Wann findet eine solche zeitgemäße Umsetzung des alten Radiokonzepts in Deutschland statt? Das Volk will mehr als Volksempfänger.
Ich teile die Diagnose: Die deutschen Radiosender und -macher nutzen die Möglichkeiten, Audio ins Netz zu bringen, zu wenig.
Ob das aber allein an den politischen Auflagen liegt? Ich glaube nicht.
Es fehlt auch an der Lust der Radiomacher selber, mit multimedialen Möglichkeiten zu spielen. Diese Erfahrung mache ich jedenfalls oft im Kollegenkreis. Denn Radio ist Radio, ist Hören, ist Hören, finden sie. Dass das Zuhören im Netz aber ohne bildliche Unterstützung nicht wirklich angenommen wird, blenden viele aus.
Dabei weiß jeder „Radio-Onliner“, dass reine Audios im Netz kaum geklickt werden.
Und ja: Es gäbe multimediale Darstellungsformen, die die originäre Kraft des Radios betonen, die trotz und gerade wegen des Bildes zum Zuhören animiern. Ich habe in meinen Blog schon mehrfach darüber geschrieben:
http://radiomachen.wordpress.com/2012/04/02/was-guckst-du-radio/
http://radiomachen.wordpress.com/2013/05/23/schon-dich-zu-sehen-radio/
http://radiomachen.wordpress.com/2013/01/31/low-budget-geht-auch/
Die Beispiele dafür stammten bezeichnenderweise fast immer von englischsprachigen Kollegen.
Übrigens: EINE deutschsprachige Ausnahme würde ich doch nennen wollen. Nämlich DRadio Wissen. Multimediale Darstellungsformen sind zwar auch da selten. Aber der modulare Aufbau der Seite ist unglaublich nachhör-freundlich: http://wissen.dradio.de/
Ich finde Dradio Wissen auch sehr gut. Aber da reden wir über die Webseite, oder?
Stimmt. Nicht die App.
Im letzten Herbst wurde von Deutschlandradio Kultur eine Sendung von mir ausgestrahlt (http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/zeitreisen/1913921/), zu der ich ein eigenes Video hätte zur Verfügung stellen können. Und Fotos. Es kam nicht dazu. Über die Gründe lässt sich im Detail lange spekulieren. Aber das Hauptproblem ist, dass es keine Verzahnung gibt. Hier das Video: https://vimeo.com/22990999