Vor 25 Jahren bekam ich zufälligerweise die Chance, in einem Team mit amerikanischen Fernsehleuten nach Berlin zu fliegen, die den Auftrag hatten, über den Fall der Mauer zu berichten. Es war ein einprägsames Erlebnis. Und das nicht mal aus den ganz offensichtlichen Gründen. Eine Geschichte in drei Teilen.
TEIL 3 und Schluss
Im Laufe des Montags, mit einer Verspätung von immerhin vier Tagen nach den entscheidenden Ereignissen, wurden die in Berlin produzierten Beiträge von Inside Edition amerikaweit ausgestrahlt. Zu den Werkstücken gehörten Bill O’Reillys am Samstag aufgenommener Aufsager an der Mauer vor dem Brandenburger Tor. Und unsere Versuche, es für die Kamera, so gut es ging, menscheln zu lassen.
Wir waren am Sonntag ganz früh an den Potsdamer Platz gefahren, damals eine riesige Brache, wo die DDR-Verantwortlichen kurzfristig mit einem Kran ein paar Platten aus der Betonmauer herausbrachen, um noch mal einen riesigen Schwall von Menschen herauszulassen, die an diesem kalten, aber wenigstens sonnigen Tag den Westen erkunden wollten. Es war mein Job, so viele wie möglich anzusprechen, um herauszufinden, ob sie eine interessante Geschichte hätten und ob sie uns wohl an der teilhaben lassen würden. „Amerikanisches Fernsehen“ war zwar ein Zauberwort, aber keines, mit dem man Stroh zu Gold machen konnte.
Ein Zufall wollte es, dass einer der Kameramänner ein junges Ehepaar mit einem kleinen Sohn einfing, als der Vater durch die Öffnung der Mauer kam und Tränen der Rührung weinte. Wir hatten also Tränen auf Band. Das war wie wenigstens drei Richtige im Lotto. Nun mussten wir nur noch diese Menschen überreden, daraus etwas machen zu dürfen und den Tippschein so richtig auszureizen.
„Sprechen Sie Englisch?“, fragte ich ihn. Und er sagte: „Ein bisschen.“
„Dürfen wir Sie auf Ihrem Ausflug begleiten?“
Man sträubte sich, war skeptisch, bis sich dann doch die Neugier durchsetzte. Zumal wir ein Auto anbieten konnten. Was vermutlich den Ausschlag gab. Sicher vor allem angesichts der Vorstellung, dass der junge Sohn irgendwann Schlapp machen und die tour d’horizon durch den Westen ein rasches Ende nehmen würde. Wir boten die bequemere Lösung.
Wir haben damals ganz konventionelle Aufnahmen gedreht – mit diesen netten jungen Ossis beim Blick in die Schaufensterauslagen am Tauentzien, beim Verzehr der ersten Pizza ihres Lebens und bei der ersten Verarbeitung dieser Erfahrungen in allzu dürren englischen Worten. Das war’s. Kein echter Lottogewinn.
Dafür waren wir tausende Kilometer gereist, hatten hunderte von Leuten angesprochen und uns in hässlichem Wetter durch eine Stadt manövriert, die vermutlich in diesen Tagen eine Unmenge von hervorragenden Geschichten bereit hielt. Die man aber auf diese Inside-Edition-Weise gar nicht finden konnte.
Ich blieb noch in Berlin, nachdem Bill O’Reilly am Montag wieder abgeflogen war und beschloss, mich zur Abwechslung auf der anderen Seite der Mauer umzuschauen. Ich hatte keinen Plan. Ich wollte mich einfach nur treiben lassen und kam am späten Nachmittag am Übergang Heinrich-Heine-Straße an, wo ich den Grenzpolizisten meinen Pass zeigte. Auf deren Reaktion war ich nicht vorbereitet. Ich könne nicht in die Hauptstadt ihrer Republik einreisen, sagte man mir, weil man als bundesdeutscher Passbürger nur bis um 16 Uhr jedes Tages ein Visum erhalten würde, dass dann bis Mitternacht gültig war. Es war die Kuriosität schlechthin: Während jeder DDR-Bürger auf einmal nach Gutdünken und jeder Zeit die Grenze überqueren konnte, musste ich als Westler deren Bestimmungen respektieren. Die DDR pfiff aus dem letzten Loch. Aber sie pfiff auf preußische Art.
Ich weiß, das war nicht die „Freiheit des Ostens“, über die Martin Ahrends ein paar Tage später in der Zeit so eloquent schrieb. Und so wanderte ich noch ein bisschen durch Kreuzberg und stand irgendwann im Dunkeln an einem weiteren Loch in der Mauer, das eher wie ein Riss wirkte und wo zwei gut gelaunte DDR-Grenzer patrouillierten, die ein paar Tage vorher noch auf jeden gezielt geschossen hätten, der sich in den Todesstreifen getraut hätte. Wir tauschten ein paar Freundlichkeiten aus und ich fragte sie, ob ich wenigstens eines der herumliegenden, kleinen Betonstücke mitnehmen könne.
„Na, klar“, lachten sie.
Ich wusste, irgendwann in ferner Zukunft würde mir – im Zweifelsfall – niemand die Authentizität dieses Stücks deutscher Geschichte abkaufen. Aber ich hatte ohnehin nicht die Absicht, dieses Souvenir zu behalten. Ich wollte es Bob Young schenken, den ich nach der Rückkehr in seinem Büro besuchte. Und der davon sichtlich beeindruckt war. Bill O’Reilly hatte an solche Mitbringsel wohl offensichtlich nicht gedacht, ehe er nach Hause flog. Es hatte ihm gereicht, sich vor der Mauer aufgebaut und in die Kamera gesprochen zu haben. „Let’s keep in touch“, rief er mir zu, als ich ihn kurz sah.
Youngs Tochter trug den Brocken später in ihre Schule und zeigte ihn im Unterricht vor. Während ich mit etwas sehr viel Erhabeneren nach Hause zurückkehrte.
Nein, nicht mit der Erkenntnis, dass man in den Fängen dieser Tabloid-Fernsehredaktionen (und wahrscheinlich der meisten Fernsehredaktionen) ganz schnell seinen inneren journalistischen Kompass verlieren konnte. Das war mir schon vorher klar gewesen. Mich beschäftigte vielmehr dieser Essay von Martin Ahrends in der Ausgabe der Zeit vom 17. November, die ich mir vor dem Einsteigen in die Maschine nach New York mitgenommen hatte, um in aller Ruhe das Geschehene und Gesehene nachzuarbeiten.
Ahrends schaffte es mit diesem Text, mir die Essenz all dessen zu vermitteln, was mich und meine ureigene, alte Neugier auf die DDR betraf. Etwas, was ich in den Jahren, in denen ich in Charlottenburg, im Wedding und in Schöneberg gelebt, an der FU studiert und für das Tip-Magazin über Berliner Filmer und Musiker (auch DDR-Musiker auf Westbesuch) geschrieben hatte, zwar irgendwie gespürt, aber nie verstanden hatte.
Ich hatte deren Radio gehört und ihre Pop-Musik geschätzt. Ich hatte ihr Brecht-Ensemble besucht und ihre Buchläden. Ich war über die von Schlaglöchern übersäte Transitstrecke gefahren und dabei jedes Mal trotz schneller Fahrt den Radarkontrollen entgangen. Ich hatte eine Vorstellung von dem Leben, das sich nun angesichts dessen, was Ahrends schrieb, offensichtlich einfach als ein Phantasiegeflecht entlarvte. Und das vermutlich ähnlich klischeehaft war wie das der amerikanischen Fernsehreporter, mit denen ich nach Berlin gekommen war. Nur anders. Denn die Schicht unter der Oberfläche – die Freiheit des Ostens – die hatte ich nie kennengelernt.
Und nun, prophezeite Martin Ahrends, der ein paar Jahre vorher aus politischen Gründen in den Westen gegangen war, würde es dazu auch keine Möglichkeit mehr geben. Die DDR brach auf. Sie brach den selbstgebauten Wall auf. Und sie brach zusammen. Alles zur selben Zeit. Und damit war die Geschichte wirklich zu Ende. „Wohlan denn, investiert euer Kapital, schickt eure Renovierungstruppen“, schrieb er, „aber bedenket, was ihr verliert an der Freiheit des Ostens.“
Auch mich bestrafte das Leben. Ich war zu spät gekommen.
So wie Bill O’Reilly, der in der Sendung diese historischen Sätze sprach: „Hello and welcome to Inside Edition. I’m Bill O’Reilly. Behind me is the Brandenburg Gate in East Berlin, the symbol of a divided Germany. Over the last few days many of us have seen reports coming from here. Not since the defeat of the Nazis in 1945 has Europe experienced such an emotional story. It is all about freedom, and today we will bring you the drama and some of the people caught up in the opening of the Berlin Wall.“
In dieser Woche wird er bestimmt den Schnipsel mit diesem Auftritt wieder abspielen. Er war ja offensichtlich damals nur aus einem Grund in Berlin: um sich selbst zu filmen. Ein Selfie-Made-Man.
P. S.:
Vor fünf Jahren nahm sich die Daily Show ebenfalls des Themas an. Es war ein reizvolles, bizarres Echo auf das, was mir all diese Jahre durch den Kopf gegangen war, und entlarvte die Motive all dieser Selbstdarsteller in einem Beitrag von zehn Minuten Länge, Es war nicht so schwer, wie es vielleicht klingt, denn eine Reihe von Fernsehleuten hatten in den Tagen zuvor ihre Zuschauer mit Nachdruck daran erinnert. dass sie selbst höchstpersönlich damals vor Ort gewesen waren.
P.P.S.
Ich habe die Gelegenheit bekommen, für die aktuelle Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung einen Text zu schreiben, der meine Erfahrung mit dem amerikanischen Fernsehen vor 25 Jahren in Berlin zusammenfasst. Entstanden ist er auf der Basis dieses Blog-Textes. Ich werde ihn verlinken, sobald er online gestellt wurde.
2 Gedanken zu “Good news is bad news – eine Geschichte aus dem Berliner November 1989 (Teil 3)”